Die Kieler Gelbwesten und die „Große Meuterei“

Nachbericht „Große Meuterei“ Gelbwesten-Demo am 4.11.23

Am Samstag, den 4.11. zogen die „Kieler Gelbwesten“ in einer langatmigen Demonstration durch Kiel. Die Gelbwesten verstehen sich selbst als überparteiliche Widerstandsbewegung, die immer wieder betont, dass absolut alle dazugehören können. Ob links, rechts, ungeimpft, geimpft, „egal welche Hautfarbe oder sexuelle Orientierung“ und so weiter. Nach der unverhohlenen Kooperation mit Gereon Bollmann und Karin Kaiser von der AfD Anfang des Jahres nahm die Gruppe auf ihrem Blog Stellung und beschwerte sich über die regierungskonforme und gesellschaftsspaltende Antifa, die anscheinend zu Unrecht daraus geschlussfolgert hatte, dass die Gelbwesten rechts seien. Rein inhaltlich sei eben die Übereinstimmung da gewesen, und da sie ja nun einmal so explizit parteilos sind, scheint die Angehörigkeit von solchen Personen bei einer rechtsextremen Partei dann kein Problem zu sein, wenn diese „als Menschen“ dabei sind. Widersprüche im Inneren gibt es in der Welt der Gelbwesten ohnehin nicht: Jede Sexualität ist willkommen, aber eben auch die Menschen, die mit der „Frühsexualisierung unserer Kinder“-Keule anti-queere Propaganda verbreiten. Jede Hautfarbe ist willkommen, auch Antifaschist*innen werden explizit eingeladen, aber eben dann auch gleichzeitig AfD-Anhänger*innen oder Menschen mit Fahnen der vorfaschistischen Landvolk-Bewegung oder historischen Bundesstaaten des Kaiserreichs. Man versteht sich als die Stimme notleidender Landwirt*innen, stellt sich gegen LNG-Terminals, aber fordert gleichzeitig die „Abkehr von den geplanten (Klima-)Zwangssanierungen und dem ideologiegetriebenen Klimawahn“ sowie anderen „woken“ Ideen. Man will sich gegen die geplante „WHO-Weltdiktatur“ wehren: Ein Überbleibsel wenn nicht immer noch stabiler Außenposten der umfangreichen antisemitischen Verschwörungsszenarien, die sich im Impfgegner*innen-Spektrum immer wieder finden. Gleichzeitig ist es kein Problem, wenn Menschen mit Israel-Flaggen auf der Demo auftauchen,auch obwohl Flaggen von Krisengebieten sogar explizit unerwünscht waren.
Die friedliebende und immerzu harmonische Stimmung scheint auf den ersten Blick praktisch: Statt sich wie die Bundesregierung, die EU, die UN oder auch die linke Bewegung innerlich an Details zu zerstreiten, oder gar zu versuchen, eine konsequente und schlüssige Haltung auszuhandeln, wird eben einfach alles akzeptiert. Dadurch sind auch automatisch alle, die sich nicht anschließen, eben zu systemtreu, spalterisch oder haben einfach noch nicht genug verstanden.
Die Demonstration am 4.11. wurde als „Große Meuterei“ betitelt und beanspruchte für sich, in die Fußstapfen der Kieler Novemberrevolution von 1918 zu treten – teilweise wurde die gleiche Route abgelaufen, die die aufständischen Matrosen damals entlangzogen, und es bestand die Hoffnung, dass „erneut ein großer Impuls von Kiel ausgehen“ sollte, „damit das Schlechte endlich ein Ende findet“. Solche Aussagen sind natürlich bewusst so unspezifisch wie möglich gehalten, damit alle sich angesprochen fühlen können. Anstelle der angekündigten 5.000 Menschen kamen laut Veranstaltenden ungefähr 1.500 – zu sehen waren allerdings nur ungefähr 500. Der Verlauf war weitestgehend friedlich, wenn auch provokant mit durchgängig lauter Musik, Trillerpfeifen, Sirenen und Trommeln. Eine kleine Gruppe Antifas, die spontan ein paar Parolen gegen die rechtsoffene Demo gerufen hatten, wurden am Hauptbahnhof völlig unnötig von der Polizei stundenlang gekesselt. Die Demo zog sich in die Länge dank Live-Musik und Redebeiträgen von mehr und minder bekannten Personen, die teilweise Verbindungen in verschwörungstheoretische Kreise, zur AfD oder auch zur Reichsbürgerszene haben, und thematisch war für jede*n was dabei: WHO, Klima, Kinderschutz, Frieden, Bargeld, Meinungsfreiheit und anderes.  Zusammengefasst wurden diese Themen in 14 Forderungen, die angeblich die angepasste Neuauflage der 14 Forderungen der Matrosen von 1918 sind. Abgesehen von ein paar Stichworten findet sich hier aber eher wenig wieder, denn – wer hätte es gedacht – wir befinden uns doch heute in einer deutlich anderen Situation als 1918.
Rede- und Pressefreiheit sowie Aufhebung der Briefzensur waren im Kaiserreich noch revolutionäre Forderungen, heute scheinen sie etwas deplatziert von Menschen, die auf einer legalen Demonstration mit Polizeischutz und im Internet unbehelligt meist jeden Unsinn von sich geben können. Während die aufständischen Matrosen für sich selbst Straffreiheit nach dem Aufstand forderten, sollen nun natürlich diejenigen straffrei und rehabiliert werden, die im Zusammenhang mit Corona(-Leugnung u.ä.) im Rahmen der geltenden Gesetze verurteilt wurden, denn die „Hass, Hetze und Verunglimpfungen“ würden „an eine andere schwere Zeit unseres Landes erinnern“. Dort ist wieder die Selbstidentifikation mit den Opfern der nationalsozialistischen Terrorherrschaft. Solange solche Holocaust und NS-verharmlosende Rhetorik und Gedankenansätze mitgenommen und akzeptiert werden, kann dies niemals eine echte Befreiungsbewegung sein.
Das Interessante und Gefährliche ist: Manchen der neuen Forderungen könnten wir – rein wörtlich genommen – auf den ersten Blick auch zustimmen: 
    – „Keine Zensur und Überwachung im Internet. Schluss mit der politischen Verfolgung Andersdenkender.“: Ja, free Lina, Schluss mit 129(a)-Verfahren gegen linke Strukturen, Antifaschismus ist kein Verbrechen! Keine EU-Chatkontrolle, kein Shadowban politischer Aktivist*innen auf Social Media! 
    – „Keine Waffenlieferungen in Krisen- und Kriegsgebiete. Eine Außenpolitik der Versöhnung und Diplomatie.“: Richtig. Wenn das nicht hintenrum nur bedeuten würde „Verbündung mit Putins Russland“.
    – „Ein Gesundheitssystem zum Wohle der Menschen.“: Unbedingt! Es braucht ein Ende der Profitlogik im Gesundheitssektor. Niemand darf Profite auf dem Rücken von überarbeiteten und unterbezahlten Fachkräften machen!
    – „Persönliche Freiheit und Selbstbestimmung für alle Menschen.“: Ja, wir brauchen ein Selbstbestimmungsgesetz ohne transfeindliche Hintertüren! Wir brauchen gleiche Rechte für alle Menschen, selbstverständlich! Im Original will man sich hier allerdings u.a. einfach nur „nicht vorschreiben lassen, was man zu essen hat“. Also gegen die angebliche Zwangs-Veganisierung der Gesellschaft.
    – „Volksabstimmungen auf allen Ebenen“: In Kombination mit der bestehenden repräsentativen Demokratie ist das wahrscheinlich schlecht machbar – mit Räten und Kollektiven würde das schon anders aussehen.
    
Wie wir sehen, basieren viele der Forderungen auf tatsächlichen Problemen. Die Welt wird immer ungerechter – Krisen folgen nicht mehr nur aufeinander, sondern stapeln sich immer höher. Der Wunsch nach einer radikalen und umfassenden Lösung wächst. Wir sind ebenfalls der Meinung, dass die Politik der Bundesregierung uns weiter in den Abgrund treibt – solange Profit, Wirtschaftswachstum und geopolitische Macht die eigentliche Motivation darstellen, wird sich das in keinem Land dieser Welt je ändern. Wir brauchen tatsächlich eine komplette Neuausrichtung! Allerdings sind die Lösungsvorschläge, die uns von den Gelbwesten und ihren Menschenfreund*innen unterbreitet werden, nutzlos. Der Klimawandel kann nicht durch Abschaffung von Klimaschutzgesetzen besiegt werden. Wirtschaftliche Ungerechtigkeit kann nicht einfach durch Stärkung der heimischen Wirtschaft aufgehoben werden. Es ist wichtig, sich gegen politische Verfolgung, hetzerische Medien und auch Einschränkungen von Menschenrechten zu stellen – davon sind aber vor allem die betroffen, die ohnehin schon ganz unten in der Gesellschaft sind, nicht die weiße deutsche Mittelschicht. Beispiele sind das PKK-Verbot, Zeitungen und Onlinemedien wie BILD oder NiUS, und die zunehmenden Beschneidungen des Asylrechts. In Verschwörungstheorien die betroffenen Minderheiten zu den Übeltätern umzudichten, ist völlig verdreht und gefährlich. Ebenso ist es falsch, zu behaupten, progressive Kräfte würden die Gesellschaft spalten.
Es ist nicht spalterisch, sich klar von rechts abzugrenzen! Im Gegenteil: Die Rechten sind es, die sich von der Spaltung der Gesellschaft ernähren und sie anfeuern. 
Der Frust vieler Menschen ist absolut gerechtfertigt, und diesen nutzen rechte Akteure aus, um selbst an Macht zu gewinnen. Dabei haben sie überhaupt keine Interessen der Bürger*innen im Sinn. Gesellschaftliche Spaltung kann kaum dadurch beendet werden, Betroffene und Täter*innen von Ausgrenzung und Hass einfach beide nebeneinander zu akzeptieren. Die Gelbwesten sind sicherlich keine Neonazis. Aber wer sich selbst nicht als rechts sehen will, sollte verstehen, dass es weder akzeptabel noch nützlich ist, sich mit Rechten zusammenzutun, egal ob einzelne Positionen vielleicht zu den eigenen Wünschen zu passen scheinen. Die aktuelle Politik auf der Welt macht uns Menschen und den Planeten kaputt. Unbequem wird diese Welt aber nicht erst durch Heizungsgesetze, sondern sie wurde es bereits durch jahrhundertelange Ausbeutung und Umweltzerstörung. Wir brauchen Klimaschutz auf Kosten der Superreichen, wir brauchen internationalen Frieden ohne Machtansprüche und abgeriegelte Grenzen. Wir brauchen echte Gleichberechtigung für Menschen aller Religionen, Ethnien, Geschlechter, Sexualitäten und Berufe.

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