Seit nun mehr als einem Jahr befindet sich der immer schwelende, mal brennende Nahost-Konflikt nun wieder auf einem schrecklichen Höhepunkt.
Was sehen wir seit einem Jahr?
Wir sehen Menschen in Israel, dem Land, das ihnen verspricht, notfalls der einzig sichere Ort auf Erden für jüdisches Leben zu sein, die plötzlich nichts mehr davon glauben können. Eine Regierung, die sich weigert, herauszufinden, wieso sie diese Sicherheit nicht gewähren konnte, ein Abkommen zur Freilassung der dutzenden noch gefangenen Geiseln mit Aufgeben gleichsetzt, und stattdessen mit aller Brutalität die militärische Vormachtstellung ihres Staates schnell zu rehabilitieren versucht. Wir sehen das unglaubliche Leid der ermordeten, misshandelten und entführten Israelis, welches durch nichts wieder gutgemacht werden kann.
Wir sehen rechtsextreme Siedler*innen, die die Lage ausnutzen, um unter der schützenden Hand dieser Regierung noch brutaler ihre illegalen Besatzungspläne umzusetzen. Einen Ministerpräsidenten, der genau weiß, dass diese seine rechtsextreme Regierung zerfallen wird, sollte es zum Ende des Krieges und den vielfach geforderten Neuwahlen kommen.
Wir sehen zehntausende tote Palästinenser*innen, und Hunderttausende, die wortwörtlich vor den Trümmern ihrer Existenz stehen. Jahrzehntelange Arbeit, die nötig sein wird, um den Gazastreifen wieder bewohnbar zu machen. Immer mehr Tote, Flüchtende und Verzweifelte, die jetzt auch im Libanon die völlige Zerstörung ihrer Heimat fürchten, wenn ein angeblicher Präzisionsschlag auf den anderen folgt und Wohnblock für Wohnblock vernichtet wird.
Wir sehen Islamisten, denen der Tod ihrer eigenen Landsleute hinnehmbar erscheint, während sie weiter aussichtslos und motiviert durch Hass den Israelischen Feind attackieren und dessen übermächtige und übermäßige Reaktion durchaus kommen sehen dürften. Wir sehen, dass auch die Zukunft immer aussichtsloser erscheint. Kommende Generationen, die so traumatisiert sein werden, so viel Trauer und Wut in sich tragen, dass eine Versöhnung so viel schwerer sein wird. Seit Generationen tief sitzendes Trauma, das nun auf grausame Weise wieder erneuert wird. Eine Zukunft, für die keine der Kriegsparteien einen akzeptablen Entwurf vorlegen kann.
Wir sehen eine Weltgemeinschaft, deren tief verlaufende Risse sich nun noch mehr ausbreiten. Die Risse, die spätestens seit der Fortsetzung der russischen Eroberungsversuche in der Ukraine niemandem mehr verborgen bleiben konnten. Risse, die sich seitdem quer durch die Gesellschaft ziehen. Jüdische und muslimische Menschen überall auf der Welt, die um ihre Sicherheit bangen müssen, die immer befürchten müssen, für die Taten ihnen völlig fremder Personen verantwortlich gemacht und gehasst zu werden.
Wir sehen Fronten zwischen politischen Gruppen, die eigentlich zusammen kämpfen sollten. Versteifung von Positionen und Verschwinden von Debatten. Die Unfähigkeit, Widersprüche auszuhalten. Widersprüche, die so tief sitzen, dass sie die Betroffenen verzweifeln lassen. Wir sehen Regierungen, die nichts daran ändern können oder wollen. Die stumpfe Solidaritätsbekundungen verlautbaren, nutzlose Verurteilungen aussprechen, und erfolglose Verhandlungen durchgeführt haben. Deutschland, das sich unerschütterlich hinter den Staat Israel stellt, im Glauben, seine historische Verantwortung dadurch zu erfüllen – und dabei nicht einmal in der Lage ist, jüdische Menschen hier vor Ort zu schützen. Ein Deutschland, gleichzeitig gnadenlose und rassistische Politik gegen hauptsächlich muslimische Migrant*innen durchsetzt.
Was wir aber auch sehen: Menschen, die all das nicht hinnehmen wollen. Menschen, die sich für gerechten Frieden versuchen einzusetzen. Die für Verständigung stehen, die an Vernunft und Menschlichkeit appellieren. Die nicht die Augen verschließen vor den Taten „einer der Seiten“, nur um ein makelloses Narrativ herstellen zu können. Die verstehen, dass es nicht zwei Seiten gibt, nicht zwei Teams, von denen man eines anfeuern und das andere verachten muss. Die sehen, dass die Mächtigen nie auf der selben Seite stehen wie jene, die sie beherrschen – weder in Nahost noch hierzulande. Und auch diese Menschen müssen sich immer wieder Hass und Unverständnis gegenüber sehen.
Leistet Widerstand gegen solchen Hass. Steht solidarisch ein gegen Rassismus, Antisemitismus und staatliche Repression. Hinterfragt eure Standpunkte. Erweitert eure Quellen. Habt Mitgefühl.
Wir müssen uns alle trauen, differenziert zu bleiben und nicht reflexartig Informationen abzutun oder zu glauben. Kein Mensch, keine Politgruppe, keine Partei kann diesen Konflikt allein lösen, und niemand kann eine vollständig ausgefeilte und einzig „richtige“ Meinung dazu haben. Und das ist auch nicht unsere Aufgabe. Wir sollten aber dazu beitragen, dass der Hass und die Gewalt sich nicht noch mehr ausbreitet, sondern Solidarität und Gemeinsamkeiten unser Handeln bestimmen lassen.